Freitag, 25.08.23
Ceresole Reale - Pialpetta, Unterkunft Albergo Setugrino
Km 14 - Hm rauf 1.100 - Hm runter 1.580
Unterwegs von 08:30 - 17 Uhr, reine Gehzeit ca. 7,5h
Ein landschaftlich 100% toller Tag, es war schön von der ersten bis zur letzten Minute, das ist wirklich selten! Ein wildromantisches Highlight durch Lärchenwälder zu verträumten Höhenterassen, verspricht der Rother. Und das fast durchweg mit so angenehmer Steigung, sowohl rauf als auch runter. Emotional war es vermutlich der schwerste Tag und Szenen daraus werden mich noch über Monate begleiten.
Ich weiß immer gar nicht was alle am italienischen Frühstück auszusetzen haben. Die Lehrerin meckert ganz furchtbar darüber. Dabei gibt es doch riesige Kübel voll Kekse.
Wir verabschieden uns nach ebendieser Keksparty, hier Frühstück genannt. Sie bleibt noch einen Tag in Noasca und fährt heute zum Colle Nievolet hoch, mein gestriger Ausflug, ich fahre mit bis Ceresole und starte von da wie geplant die Etappe. Unsere Wege trennen sich hier also, die Verabschiedung ist unerwartet herzlich.
Der Weg startet in Cerasole downtown und geht wunderschön die Staumauer entlang. Zwei Jungs überholen mich dort, wir plaudern ein bisschen. Sie sind eine Woche auf dem GTA und sehr jung, Mitte 20 vielleicht. Wir diskutieren die lange Etappe morgen, die mit 1600 hm rauf, die mir bei meinem aktuellen Tempo, das auch nach 4 Wochen wandern eher schlechter als besser wird, doch Sorgen macht. Es scheint nur ein SEHR früher Start als Option. Sie sehen das anders. „Rauf gehts doch immer schneller.“ meint der eine. „Da kann man ja leicht einen Zahn zulegen.“ ergänzt der Zweite.
Ja genau. Das deckt sich exakt mit meiner Erfahrung aus 4 Sommern Weitwandern. Nicht. „Aber dafür wartet dann ja das beste Panna Cotta des ganzen GTAs auf uns“ seufze ich. Morgen ist soweit. „Was denn für ein Panna Cotta ?“ fragen sie. Oh Mann. Die sind ja wirklich NULL vorbereitet…
Sie laufen in irre Tempo weiter,, der Weg biegt kurz drauf angenehm schattig in den Wald, aber man geht noch ein bisschen weiter am See.
Es ist landschaftlich umwerfend und immer wieder jeden Tag so anders schön.
Man hat bis oben immer wieder Ausblicke zurück auf den See. Ich verstehe schon, dass das eine beliebte Urlaubsregion ist. Und dass die Hotels lieber zwei Wochen an französische Familien vermieten als jeweils eine Nacht an Weitwanderer.
Es war hier irgendwo, wo das für mich schwierigste Erlebnis auf dieser Tour stattfand. Aus dem Wald seh ich plötzlich 3 Mulis laufen, ich bin total begeistert, platziere mich in der Mitte des Weges für ein Foto. Mulis auf den Mulipfaden, auf denen ich seit Wochen unterwegs bin, aus denen der GTA quasi besteht! Für euch wurden diese Wege gebaut, wir dürfen sie heute mitnutzen. Ich will Paula ein Foto schicken, sie hatte an ihrem Geburtstag welche gesehen, schwer bepackt als würden sie ihre Geburtstagstorte tragen.
Hinter meinen Mulis laufen 2 Hirten, ein paar Schaafe, dann noch ein Hirte und zwei Hunde. Wie romantisch. Sie kommen näher, ich sehe dass die Hunde einen Maulkorb tragen. Der naive Teil in mir denkt, ach wie nett, das haben sie bestimmt gemacht, damit die Wanderer keine Angst haben, das mit den Hunden ist ja nicht immer ganz einfach hier. Wie rücksichtsvoll. Die sind ja teilweise schon extrem aggressiv. Der vorderste der Hirten trägt ein kleines Lamm in den Armen. Wie süß.
Ja und dann ändert sich diese zutiefst idyllische Hirten-Schäfchen-Szenenerie sehr drastisch. Beim Näherkommen sieht man, wie geschunden die Esel aussehen. Der hinterste Hirte packt plötzlich eine Peitsche aus fängt ohne ersichtlichen Grund wie ein Irrer schreiend auf einen der Hunde einzudreschen. Seine Peitsche fliegt zweimal weit durch den Wald weil er mit so viel Wucht zuhaut. Das macht ihn nur noch wütender, was er erneut am Hund auslässt. Der Hund, der sich erst knurrend wehrt liegt bald winselnd am Boden. Der zweite Hirte kommt dazu, ebenfalls mit einer Peitsche. Jetzt hauen sie beide drauf und schreien wie komplett von Sinnen.
Daher also die Maukörbe. Damit SIE nicht gebissen werden.
Der vordere mit dem Lämmchen stellt fest, er kann das kleine Tier auch nur mit einer Hand halten und drischt jetzt mit einem Stock auf die Mulis und die Schafe vor ihm ein.
Ich bin selbst auf dem Land aufgewachsen und weiß, dass es manchmal auch einen Stockhieb braucht um zu verhindern das Kühe alle irgendwohin laufen.
Aber das ist einfach nur rohe, grundlose Gewalt. Ich stehe total erstarrt am Rand des Weges, mein Gehirn schaltet sich langsam dazu und funkt, es ist vielleicht keine ideale Situation, eine Kamera auf drei maximal aggressive Männer zu richten, während sie gerade ihre Tiere quälen. Ich lasse das Handy sinken und stecke es schnell weg. Sie ziehen an mir vorbei und beachten mich gar nicht, ich hätte sie auch filmen können, es wäre egal gewesen. Und das ist das kleine Detail was mich an dieser grausamen Szene am meisten erschüttert. Hätten Sie eine Kurve gewartet, hätten sie ihre Tiere ohne Zeugen misshandeln können, aber es ist völlig egal, dass ich da stehe. Da ist KEINERLEI Unrechtsempfinden, ich darf gerne da stehen und zuschauen, das stört niemanden der drei. Es ist normales Verhalten.
Immer wieder öffnet sich der Wald und man kommt an schönen Lichtungen raus. Ich weine bis zur nächsten Lichtung (und jetzt beim Schreiben ein Jahr später grad wieder) und sitze da lange und versuche mich zu beruhigen. Zivilcourage ist nicht so ganz einfach. Was macht man jetzt korrekterweise? Die Polizei anrufen? Und dann?? Hätte ich den Hirten sagen sollen, „dass ich das jetzt aber nicht ok finde?“ Gerade dem letzten hat man schon sehr deutlich angesehen, dass er in seinem Leben selbst viel Prügel eingesteckt hat. Viel Prügel und wenig Bildung. Macht mich das jetzt zu einem besseren Menschen, weil ich „zufällig“ in einem gewaltfreien Haushalt aufgewachsen bin? Die Szene beschäftigt mich auch deshalb so lange, weil sie so „klein“ ist im globalen Kontext und trotzdem zeigt, was Gewalt für Kreise zieht und wie schwer das zu durchbrechen ist. Und warum wohl manche der Hunde hier so maximal aggressiv geworden sind, wie so was halt entsteht. Und dass ich daran scheitere, eine Lösung zu finden.
Ich unterstütze seit Jahren die Hilfsorganisation Medica Mondiale, die nicht müde wird aufzuzeigen, in wieviele Regionen weltweit genau sowas Frauen passiert. Und es genauso „egal“ und „nicht schlimm“ ist weil eben wie hier „nur ein Hund“, da „nur eine Frau.“ In manchen Ländern muss man genau wie diese Hirten hier, nichtmal warten bis man zuhause hinter verschlossener Tür ist, man kann das auch öffentlich tun. Sie wird schon was falsch gemacht haben. Es ist normal und gesellschaftlich akzeptiert. Und auch hier, wie unglaublich schwer so etwas zu ändern und aus den Köpfen heraus zu bringen.
Ich habe lange überlegt das zu erzählen, ich schreibe ja lieber nur über die schönen Momente. Aber das andere gibt es eben auch, auch auf so einer Traum-Tour. Irgendwann habe ich mich beruhigt, und laufe langsam weiter. Und versuche nicht zu sehr zu grübeln.
Bald stoße ich auf eine Frau, ein bisschen jünger wie ich. Sie wartet auf ihre Freundin, mit der sie jedes Jahr 1-2 Wochen GTA läuft, die aber sehr langsam läuft. Sehr sympathisch! Jeder läuft sein Tempo und die schnellere wartet dann immer irgendwo. In so einer Warte-Position stoße ich auf sie und nutze natürlich die Gelegenheit, selbst stehen zu bleiben, geschickt getarnt als Interesse am Gegenüber…
Sie haben in Cerasole in dem Rifugio am Staudamm übernachtet, die einzige Unterkunft, die die Lehrerein und ich nicht angefragt hatten. Sie, weil sie Angst hatte, das wenn der Staudamm bricht sie in ihrem Bett ertrinkt (??), ich weil ich es irgendwie unsympathisch fand. Aber sie erzählt, das sei eh seit Wochen ausgebucht und rappelvoll gewesen. Auf meine Frage, wie es denn aber als Unterkunft gewesen sei, ob mein Störgefühl mich getrügt hat antwortet sie mit dem bemerkenswerten Satz: „Es war ganz ok, aber es waren zu wenig Proteine im Frühstück.“ ich krieg enen Lachanfall, „hast du JE Proteine in einem italienischen Frühstück gefunden??“ Sie räumt ein, dass das eher selten vorkommt, sie meist Dosen mit Bohnen, grün, Kidney oder weiße Bohnen mit tragen und dann oben am Berg als zweites Frühstück kalt löffeln. „Du trägst DOSEN auf den Berg?“ Ich kann es nicht fassen. „Nein, wie füllen es immer in kleine Tüten um und löffeln dann da raus.“
Da ich ja oft gefragt werde wie ich das hier mit dem Proviant mache, wo es tagsüber fast nie was zum Einkehren gibt und meine Antwort „nix, hab nur 2 TomTom-Riegel für Notfälle dabei“ viele nicht zufrieden stellt, hier also eine Variante, wie das andere machen. Noch dazu eine, die mir wirklich selbst nie eingefallen wäre.
Sie sind diesmal weiter vorne auf der Tour wieder eingestiegen, erzählt sie, um die aktuellen Etappen nochmal zu wiederholen, haben also zurück gespult weil sie die so schön fanden. Bei der heutigen kann ich das absolut nachvollziehen.
Irgendwie ist die Altersgrenze plötzlich rapide gefallen, es ist auch hier, wo ich das erste Mal über eine Jugendgruppe mit 6 Leuten stolpere, die nur mit Schlafsäcken ohne Zelt jedes Jahr auf dem GTA weiterlaufen. Und Idealerweise nur draußen schlafen wollen. Bei der einen baumelt ein riesigen Kochtopf am Rucksack, der nächste trägt den Proviant usw. Sie haben sich bei einer Jugend-Alpenvereinsgruppe kennen gelernt und machen seitdem jedes Jahr was zusammen, ohne Zelt und mit draußen schlafen. Verrückt. Soll noch mal einer sagen, diese jungen Menschen sind nicht cool….
Und kurz bevor ich am höchsten Punkt für heute ankomme, überholt mich ein quietschbunter italienischer Bergläufer… Die gehen mir ja gelegentlich (sehr) auf die Nerven, weil sie sich stets genötigt sehen, mir zu erklären, dass ich ja ganz schön langsam unterwegs sei. Um mir das zu sagen, nehmen sie selbst wertvolle Sekunden Zeitverlust bei ihrem Berglauf in Kauf.
Dieser hier ist anders. Wohin ich unterwegs bin, fragt er. Ich erzähls ihm. „wow, das ist cool.“ Er packt sein gesamtes Deutsch-Vokabular aus „Guten Tag! Ein Bier bitte! Wie geht es dir? Auf Wiedersehen.“ ich sei ja very strong, sagt er nun auf englisch. Das habe ich doch kurz vor Venedig schon mal in einer Kaffeebar gehört. Was strong auf deutsch heißt, fragt er. „Stark.“ You are very STARK!“ auf italienisch sei das Fuerte. Nun muss er aber doch weiter, sagt er mit Blick auf seine Zeitmessung und verabschiedet sich auf Deutsch „Auf Wiedersehen“ ruft er, winkt und läuft weiter. Ich höre ihn noch mehrfach dreisprachig rufen und in jeder Kurve auf mich zeigend „Strong - Fuerte - Stark!!“
Liebe Italienischen Bergläufer, so geht das. Es kann doch so einfach sein, Menschen sinnvoll zu ermutigen. Danke für die Erinnerung.
Strong - Fuerte - Stark! So komme ich oben an, am heute höchsten Punkt, dem Colle della Crocetta auf 2.641 m.
Und mit diesen Eigenschaften gesegnet sind natürlich auch die 1610 hm Abstieg ein Klacks. An den ich mich grad kaum mehr erinnern kann, aber ich glaub es ging ganz leicht.
Unten in Pialpetta begrüßt mich die Wirtin, ich habe ein Einzelzimmer gebucht, sie erzählt mir irgendwas das Katharina in irgendeiner Sprache irgendwas heißt. Ich habs vergessen, aber es war sehr nett. Das ganze Hotel ist so nett, es gibt einen Garten wo man chillen kann, Kaffee und Lemon Soda trinken. Ein perfekter Platz. Hier sind ganz viele, die Jugendlichen schlafen heute doch nicht draußen, sondern im Posto Tappa Mehrbettzimmer, dass es hier auch gibt, ein sehr nettes junges Pärchen, mit denen ich die nächsten Tage verbringen werde (und meine nächste Straftat begehen) treffe ich hier zum ersten Mal, die beiden Freundinnen tauchen irgendwann auf, es ist ein sehr schöner, entspannter Abend. Aber ich muss früh ins Bett, morgen Angstetappe. An deren Ende das vermutlich beste Panna Cotta des 65-tägigen GTAs auf mich wartet…
bin ich froh, dass du so vernünftig bist und dich nicht hast auch noch verprügeln lassen!!!!
Ich hoffe, dass das Schicksal da eine Regelung trifft.
Aber sonst hattest du viele tolle Eindrücke, wie man an den Bildern unschwer erkennen kann!
Danke , dass du aus der Erinnerung heraus immer noch so anschaulich berichtest. Ich wusste schon, dass ich dran bleiben muss ;) 😂
Frau G aus N