Traumpfad München - Venedig: Karwendelhaus – Scharnitz
20 km (20.01 laut App), hm 100 rauf, 1000 runter
Unterwegs von 8 Uhr (!!) – 15 Uhr (4 Stunden Laufzeit, 3 Stunden Wiese-Liege-Zeit) Unterkunft Hotel Risserhof
6:30 Uhr bin ich wach. Ich hab so so so gut geschlafen. Die Veganerin packt gerade ihren Rucksack, sonst ist das komplette Schlaflager ist leer. Leer! Um Halb 7! Es ist Zeit sich zu verabschieden, wir werden uns voraussichtlich nicht mehr sehen. Sie geht natürlich ohne Pause durch, ich natürlich nicht. Hier trennen sich unsere Wege, der kurze Moment in der Geschichte der Menschheit, wo Ehrgeiz und Bequemlichkeit Seite an Seite nebeneinander her gingen. Vorbei. Sie gibt mir ihre Karte „Meld dich wenn du angekommen bist!“ Ich geb ihr meine: „Du auch, wird bei dir früher sein.“ Sie lacht und meint „jetzt dachte ich schon ich könnte Gewicht loswerden, aber jetzt hast du meine und ich deine Karte und der Rucksack ist wieder so schwer wie vorhin…“
Sie hat seit Tag 1 einen schmerzenden Fuß und seit der Tutzinger Hütte ein geprelltes Knie, natürlich geht sie trotzdem diese Mördertour heute. „Was soll ich machen, habs ja so gebucht, da muss ich jetzt durch“ antwortet sie fröhlich. Sie ist schon echt hart im nehmen. Ich hätte mir jetzt wieder nen Hubschrauber gemietet oder so was.
Der Frühstücksraum ist brechend voll, vor dem Haus schwingen die ersten ihre Seile und Pickel in den Rucksack und ihre Helme auf den Kopf oder sich selbst auf ihre teuren Mountainbikes. Tauschen noch Tips für „das Schneefeld im oberen Drittel der Birkarspitze“ aus. Die Luft ist voll Adrenalin und Testosteron, jeder hat heute was „Schweres, Großes “ vor sich. Jeder außer ich. Helmkameras werden montiert, Ausrüstung überprüft, Sportuhren und GPS Geräte angelegt. Ich fühle mich wie der Tages-Looser vom Karwendelhaus. Ich werde auf einer Forststrasse 19 km ins Tal spazieren. Ich BIN der Tageslooser vom Karwendelhaus. Weil es keine Chance gibt, dass ich 1000 hm ein Geröll-und Schneefeld hochklettern kann, es 1000 hm auf der anderen Seite wieder runterrutsche um dann nochmal 600 hm hochzusteigen. Weil ich nicht 10 oder 12 Stunden am Stück stramm gehen kann. Ich werde stattdessen 2 Tage auf Spazierwegen brauchen um das Hallerangerhaus zu erreichen. Es gibt wohl Karwendeltaxis, die einem den langen Tal-Hatscher abkürzen so dass ich da auch in einem Tag sein könnte, aber das fühlt sich irgendwie auch falsch an.
Ich hatte ja gestern Abend noch „auf dem roten Kreis“ vorm Haus tatsächlich so starken Handyempfang, dass ich kurz nach Hause telefonieren konnte. Der daheimgebliebene Mann, der Ende Juli dazu kommt, erzählte, er war zu Übungszwecken mit schwerem Rucksack auf der Garmischer Kramerspitze, eine echt anspruchsvolle lange Tour. Für diese hab ich eine Woche vor Abmarsch nach einem Viertel Jahr Training, 10 Stunden gebraucht. Er ist das ohne jegliches Training aus dem Stand gestern einfach mal in 6 Stunden gegangen. Was stimmt bloß mit mir nicht?
Mir ist schon klar, das Problem ist, dass ich die Peergroup gewechselt habe, von der Ober-Fauli-Nix-Tu-Gruppe hin in die Gruppe derer, die so krass-bekloppte Sachen machen wie zu FUß (!) nach Venedig zu gehen. Eine Gruppe, in die ich wohl nicht wirklich reingehöre, mich aber irgendwie reingeschmuggelt habe. In der Fauli-Vergleichsgruppe war ich plötzlich die fitteste, die täglich 15 km die Isar entlang läuft. Hier in der Bunte-Trikots-Helm-Kamera-Truppe bin ich das unbestrittene Schlusslicht. Trotz eigener Helmkamera. Würde ich mich einfach nur selbst als Maßstab nehmen, könnte ich den großen Fortschritt des letzten halben Jahres schon erkennen und wäre stolz. Mein Kopf weiß das. Ich bin ausgebildet als Coach ANDEREN genau SOWAS aufzuzeigen. Aber emotional bekomme ich es heute morgen nicht hin (Der Coach würde jetzt sagen: „Darf ich dir ein „noch“ spendieren? Du kriegst es NOCH nicht hin“ ;-)) NEIN ICH KRIEGE DAS HEUTE ÜBERHAUPT GAR NICHT HIN!)
Um 8 Uhr (!!) kämpfe ich mich vor dem Haus durch ein Meer an bunten Trikots – in jedem wahlweise ein muskulöser Extremsportler oder eine drahtige Extremsportlerin drin. Ich will ihnen noch bockig zurufen, dass sie zu spät dran sind – der Wirt hatte doch klar und deutlich gesagt alle spätestens um HALB 8 los, alle außer ich, nur ICH hab die Sondergenehmigung loszugehen, wann es mir beliebt! Ich halte erstaunlicherweise meinen Mund und biege auf die Forststrasse nach unten.
Nach kurzer Zeit hebt sich meine Laune, der Blick ist einfach zu genial und das in alle Richtungen und für so wenig Aufwand, man kann es einfach genießen! Das Wetter perfekt, die Morgenluft so klar und befreiend. Man kann sich tatsächlich nicht verlaufen, unten ein Tal, ich oben, dazwischen ein von oben bis unten klar erkennbarer Forstweg, keine Abzweigungen nirgendwohin. Das schaffe ich!
Nach etwa einer Stunde kommt mir ein sehr sehr alter Mann mit pinker Mütze auf seinem Mountainbike entgegen gestrampelt, er hat einen etwas jüngeren im Schlepptau, der hinter ihm her hechelt. Der Alte ruft mir laut zu „Gehst du auf Venedig?“
Ich bleibe abrupt stehen. Ich bin auf einer Forststrasse fernab der „eigentlichen“ Route, von hier gehen zig kurze und längere Mehrtagestouren weg, es eines DER Wandergebiete, wie kommt er darauf? „Das sieht man an deinem Gesicht!“ lacht er mich an. Und meint anerkennend: „Madl, du bist ja gescheit, dass du hier gehst! Die Birkarspitze ist noch voller Schnee und Eis, das ist so gefährlich da! Die andern Affen müssen wir dann wieder mit dem Helikopter runter holen. Du bist SO gscheit du machst das genau richtig!“ Ich wachse innerlich 3 Meter. Nichts wird mir je meine gute Laune wieder nehmen können 🙂
„Gehst du das in einem Rutsch durch?“ will der Jüngere wissen „Nein, manchmal halte ich wo an und übernachte dann da.“ Beide lachen. Wir reden darüber, dass die wenigsten das Glück und die Zeit haben das auf einmal gehen zu können, viele verteilen die Etappen auf 4 x eine Woche und gehen dann 4 Jahre. Im Vergleich zu diesen 4-Jahres-Gehern bin ich natürlich doch recht schnell mit meinen 40 Tagen… „Viel Glück gscheites Madl“ ruft mir der Alte nochmal zu, schwingt sich auf sein Rad und ist weg.
Beschwingt, begleitet von einem plätschernden Bach zu ihrer linken, das Karwendelmassiv inzwischen in ihrem Rücken, an Wasserfällen vorbei tänzelt das sehr gescheite Mädel die letzten 15 km ins Tal. Am Stück? Natürlich nicht. Gescheit wie sie ist fällt ihr auf, dass es gar keinen Sinn macht um 12 Uhr mittags schon im Hotel anzukommen. Stattdessen verbringt sie ein paar Stunden schreibend an selbigem Bach und schlafend auf einer Blumenwiese unter einem Baum. Um 15 Uhr erreicht sie dann pünktlich zum Apfelstrudel das Hotel Risserhof in Scharnitz.
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